Hören verlernen - stimmt's oder nicht?

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bobbiline
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Hören verlernen - stimmt's oder nicht?

#1

Beitrag von bobbiline »

Hallo,
da mir immer wieder Angst eingejagt wird, dass wenn ich ich nicht genug die HG trage das Hören verlerne und sich im Gehirn alles zurückbildet, habe ich heute mal wieder danach gegoogelt. Ich finde aber keine guten Infos dazu. Überall wird das Thema nur oberflächlich als Warnung erwähnt.
Nun schreibt aber ein Arzt auf seiner Website:
"In der Öffentlichkeit besteht vielfach die Meinung, dass auch bei einem erwachsenen Menschen bei dem eine Schwerhörigkeit nach erfolgreich abgeschlossener Sprachentwicklung eingetreten ist, das Hören (und damit auch das Sprechen) mit Hilfe eines Hörgerätes stimuliert werden müsse da er sonst das Hören (und damit auch das Sprechen) verlernen würde. Diese Meinung ist objektiv falsch. Es ist noch kein erwachsener Mensch dadurch, dass er keine Hörgeräte benütz biologisch am Hörorgan geschädigt worden. Es hat auch noch kein erwachsener Mensch dadurch, dass er keine Hörgeräte benützt das Hören verlernt oder seine Sprachfähigkeit verloren. Richtig ist lediglich, dass in der Lebensphase des Spracherwerbs (von der Geburt bis in das Schulalter insbes. aber in den ersten 5 Lebensjahren) ein gutes Hören wichtige Voraussetzung für ein gutes Erlernen des Sprechens ist."
http://www.dasgesundeohr.de/ohr/1201_sc ... keit.shtml

Was stimmt denn nun? Kann man es verlernen? Und ist das Hören (bestimmte Teile davon?), nachdem sich im Gehirn alles zurückgebildet hat ist, undwiederbringbar verloren?
Welche Nachteile (die nicht wieder gutzumachen sind) entstehen denn durch das Nichttragen (oder selten tragen) von Hörgeräten nun wirklich?
fast-foot
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Re: Hören verlernen - stimmt's oder nicht?

#2

Beitrag von fast-foot »

Hallo bobbiline,

herzlich willkommen!

Hier meine Sichtweise:
Kann man es verlernen?
Ja. Und zwar irreversibel. Zum Beispiel durch das Tragen von Hörgeräten (laut aktuellen Studien liegt die Schlussfolgerung nahe, dass hierdurch nicht nur das Innenohr, sondern auch die retrocochleären Hörbahnen und sogar das Sprachzentrum* irreversibel geschädigt werden können).

Ich gehe davon aus, dass auf Grund einer "Unterversorgung mit Hör-Reizen" sich die retrocochleären Hörbahnen ebenfalls zurück bilden können - in diesem Falle jedoch nicht irreversibel.
Somit würde ich die nächste Frage wie folgt beantworten:
bobbiline hat geschrieben:Und ist das Hören (bestimmte Teile davon?), nachdem sich im Gehirn alles zurückgebildet hat ist, undwiederbringbar verloren?
Nein. Das würde dem Prinzip der (Neuro-) Plastizität des Gehirns widersprechen.
bobbiline hat geschrieben:Welche Nachteile (die nicht wieder gutzumachen sind) entstehen denn durch das Nichttragen (oder selten tragen) von Hörgeräten nun wirklich?
Abgesehen davon, dass die Hörgeräteindustrie weniger verdient? Keine.

*) natürlich kann sich dieses reorganisieren - hat allerdings weniger intakte Zellen hierfür zur Verfügung (und ich sehe hierdurch auch eine neue Vernetzung (in dem geschädigten Bereich) als weniger gut möglich an etc. (natürlich kann auf bisher nicht durch das Sprachzentrum genutzte Bereiche ausgewichen werden - den Unterschied zur Rückbildung durch Deprivation sehe ich allerdings darin, dass eine Expansion aus einem Bereich mit (vielen) geschädigten Zellen heraus statt finden muss - was bedeutet, dass die Vernetzung im Zentrum nur (noch) subobtimal sein kann etc. etc.)

Gruss fast-foot
Ausgewiesener Spezialist* / Name: Wechselhaft** / Wohnsitz: Dauer-Haft (Strafanstalt Tegel) / *) zwecks Vermeidung weiterer Kollateralschäden des Landes verwiesen / **) Name fest seit Festnahme
bobbiline
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Re: Hören verlernen - stimmt's oder nicht?

#3

Beitrag von bobbiline »

Vielen Dank für Deine interessante Antwort! Wenn das Hörgerät so eingestellt ist, dass es das Gehör nicht schädigen kann (also geringere Verstärkung als sie oftmals vom Akustiker empfohlen wird), würdest Du ein Tragen von HG aber empfehlen? Oder wird bei jedweder HG-Nutzung das Innenohr und auch die "retrocochleären Hörbahnen und sogar das Sprachzentrum" geschädigt?
Tuchel48.1.1
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Re: Hören verlernen - stimmt's oder nicht?

#4

Beitrag von Tuchel48.1.1 »

Man kann das Gehör zwar nicht ganz verlieren, aber es verkümmert, weil der "Reiz" fehlt. Mir wurde mal gesagt, das Hörgerät sei sozusagen ein Trainer, der antreibt und wen der Antrieb fehlt, verkümmert das Gehör. Außerdem kommen ohne das Gerät viel weniger Informationen ans Gehirn und das Gehirn kann weniger zum Ganzen verarbeiten.
Das Sprachvermögen geht nicht verloren, es geht nur die Kontrollmöglichkeit über die Sprache verloren, sonst könnten die GL, die schon in der Kindheit sprechen gelernt haben, im Erwachsenen-Alter nicht mehr sprechen. Ich habe schon als Kind Schulkameraden gekannt, die als GL sprechen konnten, die sprechen heute genauso gut wie früher. Nur nutzen sie die Gebärdensprache heute, um den Gesprächspartnern das Verstehen leichter zu machen. Nur Lippen absehen ist nämlich ziemlich schwer!
fast-foot
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Re: Hören verlernen - stimmt's oder nicht?

#5

Beitrag von fast-foot »

bobbiline hat geschrieben:Vielen Dank für Deine interessante Antwort! Wenn das Hörgerät so eingestellt ist, dass es das Gehör nicht schädigen kann (also geringere Verstärkung als sie oftmals vom Akustiker empfohlen wird), würdest Du ein Tragen von HG empfehlen? Oder wird bei jedweder HG-Nutzung das Innenohr und auch die "retrocochleären Hörbahnen und sogar das Sprachzentrum" geschädigt?
Wichtiger ist die Begrenzung. Je tiefer diese liegt, desto geringer fällt im Prinzip das Risiko für (durch das Hörgerät selbst verursachte) Gehörschäden aus, wobei ab einem bestimmten Punkt es gegen Null tendiert.

Ganz genau genommen sind die vom Hörgerät selbst abgegebenen Lärmdosen relevant. Können diese nicht niedrig gehalten werden (bspw., weil dann zu wenig verstanden wird), ist eine Verminderung des Risikos nur noch durch eine Reduktion der Tragedauer möglich (zumindest bei den aktuell auf dem Markt erhältlichen Hörgeräten).

Das Tragen von Hörgeräten würde ich empfehlen (falls möglich auch selektiv), wenn ein entsprechender Nutzen resultiert.

Gruss fast-foot
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JND
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Re: Hören verlernen - stimmt's oder nicht?

#6

Beitrag von JND »

Hallo bobbiline,

die von dir verlinkte Webseite stammt von Dr. Wilden, der durch krude Theorien wie die Low-Level-Laser Theraphie schon mehrfach negativ hier im Forum erwähnt wurde.

Die meiste Fachliteratur zum Thema Änderungen im auditorischen Kortex bei (Alters-)Schwerhörigkeit und Benutzung von Hörgeräte ist auf Englisch:
Hier findest du einen Artikel, der bei beidseitig Schwerhörenden den (positiven) Effekt von einseitiger Hörgeräteversorgung zeigt. In dem Artikel wird auch erwähnt, dass sich der Effekt des Hörgerätes auch dadurch zeigt, dass das Sprachverständnis im Störgeräusch sich auf der mit Hörgeräte versorgten Seite verbessert, wenn nach einigen Wochen dieses Ohr ohne Hörgerät getestet wurde. (Das andere unversorgte Ohr blieb gleich im Sprachverständnis).
Dieser Effekt gilt anscheinend auch für beidseitige Hörgeräteversorgung.

Wenn du also testen willst, ob sich dein auditorisches System positiv verändert hat durch das Hörgeräte tragen, solltest du einmal einen Sprachtests ohne Hörgeräte machen und diesen vergleichen mit den Sprachtests vor der Hörgeräteversorgung.

Wenn du keine Änderung siehst, solltest du das Hörgerät länger tragen oder die Einstellung überprüfen lassen.
ABBC3_OFFTOPIC
Zum Thema Hörgeräte-einstellung und eventueller (weiterer) Schädigung des Gehörs:
Die wichtigste Einstellung hier ist die der Verstärkung, nicht die der Begrenzung (maximum power output, MPO). Die MPO verursacht in jedem Fall Klipping im Signal, was zu sehr starken Verzerrungen und impulshaften Schallen führt, wogegen eine geringere Verstärkung die abgegebene Lärmdosis reduzieren kann.
fast-foot
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Re: Hören verlernen - stimmt's oder nicht?

#7

Beitrag von fast-foot »

Hier nochmals meine Sichtweise:
bobbiline hat geschrieben:Und ist das Hören (bestimmte Teile davon?), nachdem sich im Gehirn alles zurückgebildet hat ist, undwiederbringbar verloren?
Laut der von JND verlinkten Studien (welche somit meine Aussagen bestätigt) offenbar nicht.

Man muss allerdings beachten, dass mindestens zwei Effekte auftreten:

Einerseits die vielleicht eher kurzfristige Verbesserung, welche ja gerade aufzeigt, dass der Prozess nicht irreversibel ist. Anderseits eine eher langfristig statt findende irreversible Schädigung, welche nicht mehr vollständig kompensiert werden kann.
ABBC3_OFFTOPIC
JND hat geschrieben:Zum Thema Hörgeräte-einstellung und eventueller (weiterer) Schädigung des Gehörs:
Die wichtigste Einstellung hier ist die der Verstärkung, nicht die der Begrenzung (maximum power output, MPO). Die MPO verursacht in jedem Fall Klipping im Signal, was zu sehr starken Verzerrungen und impulshaften Schallen führt, wogegen eine geringere Verstärkung die abgegebene Lärmdosis reduzieren kann.
Dies kann ich nun überhaupt nicht nachvollziehen. Beim Impulsschall ist in erster Linie der Pegelanstieg (pro Zeit) das Kriterium, welches für das Schädigungspotential verantwortlich ist, und nicht die "Signalform" bzw. die Frequenzzusammensetzung (sogar eine Rechteckschwingung* setzt sich letztlich aus sehr vielen Sinusschwingungen zusammen - bei dieser extremen Form entstehen vor allem hohe Frequenzanteile, welche jedoch 1. einen weniger hohen Schalldruck aufweisen als das Gesamtsignal (natürlich auch in der Summe) und 2. für das Ohr auch weniger schädlich wären, selbst bei gleich hohem Schalldruck)).

Die Aussage würde auch bedeuten, dass bei einer Hörgeräteeinstellung die Vorgehensweise falsch ist, den Maximalpegel gemäss Unbehaglichkeitsschwelle zu begrenzen (dann müsste nämlich die Verstärkung abhängig von der Unbehaglichkeitsschwelle eingestellt werden - diese richtet sich jedoch nach dem Hörverlust bzw. der Hörschwelle).

Auch wäre das Konzept, welches speziell für den Lärmarbeistsplatz entwickelten und eingestellten Hörgeräten zu Grunde liegt, falsch.

Und darüber hinaus gehe ich davon aus, dass bei einem einigermassen guten (oder gar nicht all zu guten, aber modernen) Hörgerät die Pegel so begrenzt werden, dass Clipping eher vermieden wird (nur schon aus dem Grunde, weil es sehr unangenehm klingt).

*) eine Rechteckschwingung kann man als "extremste Form des Clippings" ansehen
Gruss fast-foot

PS: Zu Dr. Wilden: Auf der Seite von Dr. Wilden sind (bzw. waren - ob diese immer noch so da stehen, weiss ich nicht) viele relevante Aussagen zu finen, welche ich detailliert widerlegt habe (wer suchet, der findet, und zwar in diesem Forum). Das heisst jedoch nicht, dass sämtliche Inhalte falsch sind. Die, um welche es in diesem Thread geht, halte ich für grundsätzlich richtig.
Ausgewiesener Spezialist* / Name: Wechselhaft** / Wohnsitz: Dauer-Haft (Strafanstalt Tegel) / *) zwecks Vermeidung weiterer Kollateralschäden des Landes verwiesen / **) Name fest seit Festnahme
Ohrenklempner
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Re: Hören verlernen - stimmt's oder nicht?

#8

Beitrag von Ohrenklempner »

Aufgrund reiner Empirie aus meinem Arbeitsleben kann ich bestätigen, dass sich die Hörwahrnehmung insoweit zurückbildet, dass die sekundären und tertiären auditiven Kortexareale verlernen, mit den akustischen Informationen umzugehen und diese zuzuordnen.

Ganz prominent ist die subjektive Wahrnehmung der Kunden, dass die Sprache mit Hörgeräten (Neuversorgung) plötzlich so zischelt. Der Kopf hört es zischeln und muss erst wieder neu lernen, dieses "Zischeln" auch als Konsonanten, also als einen Teil wichtiger akustischer Informationen, wahrzunehmen.

Allgemein ist die Rückmeldung von Kunden mit Hochton-Hörverlust, dass alles ungewöhnlich "hell" klingt und so viele "Nebengeräusche" da sind, wo vorher keine waren. Auch das Herausfiltern "unwichtiger" leiser Signale muss das Gehirn erst wieder neu lernen.
fast-foot hat geschrieben:
JND hat geschrieben:Die MPO verursacht in jedem Fall Klipping im Signal, was zu sehr starken Verzerrungen [...] führt
Und darüber hinaus gehe ich davon aus, dass bei einem einigermassen guten (oder gar nicht all zu guten, aber modernen) Hörgerät die Pegel so begrenzt werden, dass Clipping eher vermieden wird (nur schon aus dem Grunde, weil es sehr unangenehm klingt).
In der Tat clippt kein aktuelles Hörgerät mehr. Meines Wissens ist das Salto+ von Hansaton das letzte seiner Art, wo man die MPO auf "Peak clipping" einstellen kann. Alle anderen Hörgeräte regeln ausschließlich durch eine ultrafixe Signalkompression die Verstärkung herunter.
...zufällig bin ich Experte auf diesem Gebiet... 🤓

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