Bis hierher

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rike 54
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Bis hierher

#1

Beitrag von rike 54 »

Hallo,

aller Anfang ist schwer und gerade finde ich nicht den richtigen. Also schreibe ich jetzt einfach mal so, wie mir die Gedanken durch den Kopf gehen.
Ich bin 59 Jahre alt und angeblich seit meinem 4. Lebensjahr, nach einer Scharlacherkrankung, schwerhörig. Angeblich deshalb, weil es nicht mehr genau rekonstruiert werden kann, da meine Schwerhörigkeit erst festgestellt worden ist, als ich schon im Berufsleben war.
Heute kann es sich niemand mehr vorstellen, wie ich meine Kindheit, Jugend- und Schulzeit bewältigt habe. Ich weiß nur, dass ich in Französisch und Englisch, regelmäßig im Wechsel, eine stolze 5 mit nach Hause gebracht habe und mir damit natürlich die Backpfeifen abgeholt habe.
Ausserdem habe ich oft für gute Laune gesorgt, da sich die Leute auf meine Kosten immer köstlich amüsiert haben, wenn ich etwas falsch verstanden oder interpretiert habe.
Trotzdem ist niemand, am aller wenigsten ich selbst, auf die Idee gekommen, mein Gehör zu überprüfen. Ich glaube, so eine "Karriere" wäre heute nicht mehr möglich.
Als ich dann so ungefähr 25 Jahre alt war und schon im Berufsleben, kamen dann die ersten Hinweise und ich bin zum Ohrenarzt. Das Ergebnis war schlecht und es wurde vermutet, dass die Scharlacherkrankung diesen Schaden verursacht hat.
Zunächst einmal konnte ich mich nicht damit abfinden, nun zum Hörgeräteträger zu werden und habe mich noch 5 Jahre dagegen gewehrt.
Mit 30 Jahren war es dann vorbei und ich bekam meine ersten Hörgeräte.
Die erste Zeit war furchtbar und ich hatte große Mühe, mich daran zu gewöhnen, da ich ja zu dem Zeitpunkt noch nicht einmal wusste, wie sich das Zwitschern der Vögel anhört.
Mit den Jahren habe ich mich gut an die Geräte gewöhnt. Woran ich mich nicht gewöhnen konnte, war, dass ich eine Behinderung habe.
Also wurde die ganze Sache vertuscht, so gut es eben ging. Dadurch habe ich mir selbst viel Druck gemacht und mein Leben erschwert.
Aber auch nachdem ich gelernt habe, offen mit meiner Schwerhörigkeit umzugehen, sind meine Erfahrungen mit unseren lieben, hörenden Mitmenschen oft sehr bitter. Ich habe viele Verletzungen davon getragen, unter denen ich heute noch leide.
Mittlerweile ist mein Gehör so schlecht, dass ich mich nun an der Grenze zur Taubheit befinde. GDB 80%
Ich befinde mich auch in der Therapie, weil mir meine Lebensgeschichte zunehmend auf den Kopf gefallen ist und ich immer mehr mit Depressionen zu kämpfen habe.
Soviel zu meiner Geschichte. Es ist für mich das erste Mal, dass ich mich mit Betroffenen austausche und ich merke, dass es mir gut tut.

Liebe Grüße. Rike
Zuletzt geändert von rike 54 am 14. Apr 2014, 08:48, insgesamt 1-mal geändert.
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KatjaR
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Re: Bis hierher

#2

Beitrag von KatjaR »

Liebe Rike,
schade dass du diesen Austausch jetzt erst findest, aber besser spät als nie! Ich habe nach postlingualer (nach dem Spracherwerb) Ertaubung im Erwachsenenalter auch 5 Jahre dafür gebraucht, weil im örtlichen Schwerhörigenverein der Schnitt ü 70 war und auch keiner ertaubt. Nachdem ich das CI bekam habe ich mich wieder nur unter Hörenden bewegt und versucht mich denen so gut wie möglich anzupassen. Das hat aber mit Hörbehinderung alles seine Grenzen und so richtig verstanden hat meine Situation auch keiner, das fand ich auch sehr schwierig für mich. Später habe ich bei einem neuen Anlauf doch auch Anschluss an eine Selbsthilfegruppe gefunden, in der mir die Gespräche sehr gut taten, weil mir klar wurde, dass bestimmte Erfahrungen einfach hörbehindertenspezifisch sind. Das macht es leichter damit umzugehen und nicht alles persönlich zu nehmen. Richtig aufgehoben fühle ich mich mittlerweile am besten unter Leuten die ebenfalls ein CI haben, weil man sich wechselseitig aufeinander einstellt und versteht. Da sind viele gute Freundschaften enstanden. So fahre ich seit vielen Jahrne "zweigleisig", mein "normales" Leben unter Hörenden in Beruf und Familie, und meine "Oasen" im Verein und die Freundschaften die ich zu Betroffenen pflege, beides finde ich sehr wichtig, da nur eins von beidem mir nicht reichen würde. Ich hoffe sehr dass du ein ähnliches Umfeld für dich findest, vielleicht kann dir auch ein CI wieder zu mehr Lebensqualität verhelfen, ab einem gewissen Grad der Hörschädigung helfen Hörgeräte einfach nicht mehr genügend. Zwei wichtige Schritte hast du bereits getan, die Offenheit mit deiner Einschränkung und dir Hilfe zu holen wo du alleine nicht mehr weiter kommst, ich wünsch dir von Herzen dass du auch reale Kontakte findest die dich bei dem Prozess emotional unterstützen. LG Katja
Zuletzt geändert von KatjaR am 30. Mär 2014, 12:22, insgesamt 1-mal geändert.
Langjährige CI-Trägerin (AB) Das Leben und dazu eine Katze, das gibt eine unglaubliche Summe.
(Rainer Maria Rilke)
Pfefferminze
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Re: Bis hierher

#3

Beitrag von Pfefferminze »

Liebe Rike,
ja, es ist auf jeden Fall gut zu seiner Behinderung zu stehen. Ich muss aber sagen, dass ich das Gefühl habe mein Umfeld meint jetzt: Ach toll, sie hat sich geoutet, nun geht es ihr ja besser. Aber leider, leider, die Schwerhörigkeit bleibt und mit ihr das Gefühl isoliert zu sein. Ich weiß immer noch nicht, wie ich damit klar kommen soll. Auch wenn ich dazu stehe, kann ich mich nicht an Diskussionen und Plaudereien beteiligen. Ich kann nachfragen, was ich auch tue, aber oft verstehe ich auch die 3. Wiederholung nicht und dann???
Ich habe mich für ein Treffen in einer SHG in meiner Nähe angemeldet, das findet in 1 Woche statt. Ich bin gespannt, wie andere damit umgehen.
Lieben Gruß und noch
einen schönen Sonntagabend
Pfefferminze
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rike 54
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Re: Bis hierher

#4

Beitrag von rike 54 »

@Katja. Vielen Dank für deine lieben Worte, die ich sicher beherzigen werde. ich bin nur mit gut hörenden Menschen zusammen und vermisse, außer bei meinem Mann, öfter das Verständnis. Ich glaube jetzt auch, dass der Austausch mit Betroffenen mir sicher gut tun wird.

@Pfefferminze. Ich kann dich gut verstehen. Mir geht es in der Gesellschaft genauso. Gespräche in einer größeren Runde kann ich kaum verfolgen. In der letzten Zeit ist es für mich so anstrengend geworden, dass ich die Gesellschaft, wenn es irgend geht, vermeide. Ich bin mal gespannt, welche Erfahrung du in der Gruppe machen wirst.

Liebe Grüße. Rieke
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franzi
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Re: Bis hierher

#5

Beitrag von franzi »

Leider machen so ziehmlich alle Hörgeräteträger die negative Erfahrung in der Gruppe kaum bzw. nichts zuverstehen. Das liegt einfach daran das die heutigen Hgs leider nicht wissen was der Träger nun an stimmen hören möchte. Das heißt die Hgs verstärken eben alles was im Sprachbereich liegt Ein paar abhilfen gibt es heute ja schon, z.b das die Hgs nur das von vorne Verstärken, um das richtig nutzen zukönnen, müsste man so sitzen das man die lauten dinge im Rücken hat und mit dem wo man spricht am besten ne Wand dahinter kommt. Alles nicht so einfach leider.
seit geburt schwerhörig. erste Hörgeräte mit 11jahren, mittlerweile Hochgradig sh bis an taubheitgrenzende schwerhörig
Links seit 12.2010 CI , re-implantation Mai.2011 und recht oktober.2014 CI.
Pfefferminze
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Re: Bis hierher

#6

Beitrag von Pfefferminze »

Liebe Rike,

ich habe dir gerade Mail geschrieben und versehentlich irgendwo auf die Tastatur gedrückt und nu ist sie weg. Vielleicht ja bei dir angekommen. Ich wollte dir von meinem 1. Treffen in der Selbsthilfegruppe berichten.
War nicht so toll, habe nur sehr wenig verstanden, aber bewusst nicht nachgefragt, wollte sehen, wie die anderen so verstehen. Habe mich gewundert, dass bei 10 Teilnehmern in 1 1/2 Std. nur 4 x nachgefragt wurde. Ich erkundigte mich zum Schluss, ob die anderen wirklich alles verstanden haben. Ja haben sie. Ich bin sehr erschrocken über meinen Hörverlust! Es waren aber, bis auf einen, alles CI-Träger. Vielleicht geht das mit einem CI wirklich alles leichter. Na ja, ich werde auf jeden Fall wieder hin, kann ja nicht direkt das Handtuch werfen.

Lieben Gruß
Pfefferminze
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rike 54
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Re: Bis hierher

#7

Beitrag von rike 54 »

Liebe Pfefferminze,

es tut mir leid, dass du nur so wenig verstanden hast. Woran lag das denn, wurde durcheinander oder zu schnell oder leise gesprochen? Es ist immer frustrierend, wenn wir nicht verstehen aber gerade in dieser Gruppe wirst du doch bestimmt viel Verständnis bekommen. Deswegen wäre es doch vielleicht nicht schlecht, wenn du dort, wo du keine Zurückweisung zu erwarten hast, lernst, wie du eine bessere Verständigung für dich einfordern kannst.
In der "normal" hörenden Welt habe ich oft Hemmungen, auch weil es mir peinlich ist, immer wieder nachzufragen.
Mittlerweile glaube ich jedoch, dass wir mehr auf uns selbst hören müssen. Ich lerne dies gerade in der Therapie.
Hast du dich mit den Leuten wohl gefühlt? Dann würde ich auf jeden Fall wieder hingehen.
Ob es mit einem CI besser ist, weiß ich noch nicht. ich habe gerade erst angefangen, mich mit dem Thema zu beschäftigen.
Bist du berufstätig, du bist ja noch sehr jung. Ich habe die Erwerbsminderungsrente eingereicht, da es in meinem Beruf, als Arzthelferin in der Radiologie, immer schwieriger wurde und der Druck dadurch immer höher wurde. Zur Zeit bin ich noch arbeitslos gemeldet. Auf die Erfahrungen mit dem Arbeitsamt, hätte ich gerne auch verzichtet.
Ich drücke dir für dein nächstes Treffen in der Gruppe die Daumen und hoffe, dass dich das Zusammensein etwas aufbauen kann.
Eventuell würde für dich ja auch ein Therapie in Frage kommen. Es gibt sicher einiges aufzuarbeiten.

Lieben Gruß

Rike
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