Er weiß noch nicht einmal, wie er heißt...(1)

Hier kann man sich vorstellen oder eigene Erlebnisse berichten
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hotte
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Er weiß noch nicht einmal, wie er heißt...(1)

#1

Beitrag von hotte »

... diese erschütternde Feststellung machten wir am Abend nach der Diagnose "ihr Sohn ist hochgradig schwerhörig". Er war zu diesem Zeitpunkt 21 Monate alt.

Hallo zusammen!

Seit 2 Jahren lesen und schreiben wir hier gelegentlich mit; jetzt möchten wir uns endlich einmal vorstellen:
Wir sind eine Familie mit 2 Töchtern (9 und 11 Jahre alt, beide normalhörend) und einem fast 4 Jahre alten Sohn (Hörschwelle bei Diagnose beidseits ca. 80 dB über alle Frequenzen, seit Mai diesen Jahres links ertaubt).
Niemand sonst in unserer Familie ist schwerhörig.
Unser Sohn wurde im September 2006 nach einer unkomplizierten Schwangerschaft termingerecht ambulant entbunden. K. entwickelte sich in den ersten Lebensmonaten altersgerecht.
Er hatte allerdings Eigenarten, die wahrscheinlich auf seine Hörschädigung zurückzuführen waren: z.B. ließ er sich niemals mit Gesang oder Zuspruch ohne Körperkontakt beruhigen, lachte im Alter von 5 Monaten noch nicht stimmhaft, wurde beim Autofahren allein auf dem Rücksitz panisch ... (der Kinderarzt quittierte unsere Beobachtungen mit einem müden Lächeln). Es hieß ständig: "Jungen sind anders", "ihr seid verwöhnt mit euren Mädchen" usw..
Erste ernste Zweifel an seiner Hörfähigkeit stellten sich bei uns ein, als er im Alter von etwa 11 Monaten nicht auf Zuruf reagierte, keine Doppellaute bildete, Anweisungen ohne Gesten offenbar nicht "verstand"... . Dennoch erschien uns eine Hörschädigung abwegig, da er sich bei lauten Geräuschen (Hundegebell, Türenknallen..) stets erschreckte, in der Familie keine Hörschädigungen bekannt sind und K. noch nie eine Mittelohrentzündung, geschweige denn eine stärkere Erkältung gehabt hatte. Als er wieder einmal nicht lauschte, als seine Tante uns mit lauten Stöckelschuhe besuchte und sich dann "wunderte", dass sie hinter ihm stand, kontaktierten wir unseren ortsansässigen HNO-Arzt und fragten nach, ob es eine Möglichkeit gäbe, bei solch kleinen Kindern eine objektive Hörprüfung durchzuführen.
Es hieß, sobald eine Hörminderung durch eine Mittelohrentzündung oder Paukenerguss ausgeschlossen wäre, könne er eine sogenannte BERA durchführen. Bei dieser Untersuchung würden Gehirnströme in Abhängigkeit von akustischen Reizen gemessen und aufgezeichnet. K. müsste sich dabei ruhig verhalten und Kopfhörer tragen. Wir suchten am nächsten Tag den HNO-Arzt auf: K.s Trommelfelle waren unversehrt, der HNO-Arzt machte einen Lärmtrommeltest (Lautstärke am Ohr – wie wir inzwischen wissen - 80-85dB) bei dem K. eindeutig mit Kopfwende reagierte. Zu meiner Beruhigung ließ der Arzt von einer Arzthelferin die BERA durchführen. K. saß dabei ruhig auf meinem Schoß. Kurze Zeit später erklärte der HNO-Arzt, das Ergebnis der Untersuchung sei unauffällig, er habe Lautstärken bis 20dB getestet, alle akustischen Reize würden zum Gehirn weitergeleitet. Er schickte mich mit den Worten: "Lassen Sie dem Kind noch etwas Zeit, er ist doch noch so klein" nach Hause.
Nach anfänglicher Freude und Erleichterung folgten dann die frustrierendsten Monate unseres Elterndaseins. K. wurde immer mobiler und chaotischer. Seine Lieblingsbeschäftigung war das klangvolle Zerstören zerbrechlicher Dinge, lautes Hämmern, den Hund am Fell reißen, bis er aufjaulte u.v.m.. Unser Kind machte eigentlich einen recht pfiffigen Eindruck – warum wollte es bloß nicht hören?!
Inzwischen wissen wir, dass er offenbar viel beobachtete und kombinierte. Gab ich ihm zum Beispiel etwas für den Mülleimer, machte ich gleichzeitig eine wegwerfende Geste und sagte: „Bring das mal in den Müll.“ Er hatte also nur die Geste verstanden, nicht die Worte. Außerdem wiederholte und benutzte er mit Begeisterung Gesten und hatte eine ausgesprochen „intensive“ Mimik.
Es war einfach nicht nachvollziehbar, warum er uns fröhlich – ja geradezu herausfordernd - ansah, wenn wir richtig laut mit ihm schimpften, ihn anbrüllten, weil er wieder mal nicht hören wollte. Nachdem ich ihn wieder einmal kräftig angeschrien hatte, als er zum 5. Mal an diesem Tag die Küche mit dem Hundewassernapf flutete, imitierte er meinen erhobenen Zeigefinger und sagte „Aaaaaa“. Warum „Aaaaa“ ? Ich hatte schließlich „Neeeeiiiinnnn“ geschrien!
Wieso machte es ihm offenbar eine so große Freude, seinen Schwestern in den Haaren zu ziehen, bis diese laut schrien?
Irgendetwas stimmte nicht mit unserem Sohn. War er vielleicht autistisch, geistig behindert oder doch einfach nur ungehorsam? Die Situation wurde für die gesamte Familie unerträglich. Deshalb suchte ich 10 Monate nach der Diagnose „Ausschluss einer Hörminderung“ unseren Kinderarzt auf. Ich schilderte kurz, dass wir das Gefühl hätten, K. höre schlecht, der HNO-Arzt aber aufgrund einer BERA eine Hörminderung ausschloss. Nun fange K. immer noch nicht an zu sprechen und ignoriere auch, wenn wir ihn rufen, bzw. verstehe nicht oder wolle nicht verstehen, was wir ihm sagen. Die Frau des Arztes meinte nur lapidar, es sei nichts besonderes, wenn Kinder in K.s Alter noch nicht sprechen, und der Arzt – ohne auch nur einen Blick auf den Kleinen zu werfen - druckte mir eine Liste mit Adressen von Pädaudiologien in der näheren Umgebung aus.

Um es etwas abzukürzen: Eine sorgfältig und gewissenhaft durchgeführte BERA in Dortmund brachte das Ergebnis: Hörschwelle beidseits um 75 dB.
Es stellte sich weiterhin heraus, dass die 10 Monate zuvor von unserem HNO-Arzt ermittelten Kurven - sofern man sie als relevant zugrunde legen würde – komplett pathologisch waren.
Nicht eine einzige Welle entsprach der Norm - das versicherten uns mehrere HNO-Ärzte und ein Neurologe. Es war einfach unfassbar!
Offensichtlich war er weder in der Lage die Untersuchung korrekt durchzuführen, noch die Ergebnisse auszuwerten. Wieso war er nicht wenigstens so verantwortungsvoll gewesen, uns an eine Pädaudiologie zwecks Diagnoseabsicherung zu verweisen oder eine Kontrolle nach einem kurzen Zeitabstand vorzuschlagen? In der Zwischenzeit haben wir viele Eltern kennen gelernt, die leider ähnliche Erfahrungen machen mussten.
Da wir diesmal unbedingt eine zweite Meinung hören wollten, konsultierten wir Dr. B. in Gelsenkirchen, der 3 Wochen später eine weitere BERA in Narkose durchführte.
Bei dieser BERA lag K.s Hörschwelle etwa bei 80dB, ziemlich gleichmäßig über alle Frequenzen. Dr.B. stellte gleichzeitig ein extremes Recruitment fest und erklärte uns, dass K. hohe Schallpegel nahezu wie ein Normalhörender wahrnimmt. Unterhalb einer Lautstärke von 75-80dB ist es ihm jedoch nicht möglich, irgendetwas zu hören.
Zuletzt geändert von hotte am 10. Aug 2010, 16:05, insgesamt 1-mal geändert.
hotte
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Er weiß noch nicht einmal, wie er heißt...(2)

#2

Beitrag von hotte »

Nach und nach haben wir gelernt, das ganze Ausmaß unserer neuen Situation zu erfassen. Wir haben viel recherchiert, über sensible Entwicklungsphasen der Hör- und Sprachentwicklung, Diagnostik, Psychologie, Hörbahnreifung, Genetik, Syndrome, Entwicklungsverzögerungen, Integration, Behindertenrecht, Hörgerätetechnik, Pädakustiker, „Experten“ etc..
Nachdem sein Hörvermögen über 2 Jahre konstant blieb und er sprachlich gute Fortschritte machte, ist K. Anfang Mai diesen Jahres auf dem linken Ohr plötzlich völlig ertaubt. Bei der CI-Voruntersuchung fand sich dann auch die Ursache für K.s Hörverlust – eine dysplastische Cochlea beidseits mit abnormer Verbindung zum inneren Gehörgang. Wir haben ihn noch im Mai implantieren lassen. Inzwischen versteht er auch mit dem CI schon ganz gut, sein rechtes Ohr ist aber noch dominant.
Er spricht für Außenstehende verständlich, z.B. "Ich möchte Wurst haben" an der Wursttheke, liebt es zu singen und zu erzählen, kann stundenlang zuhören, wenn man mit ihm Bilderbücher anguckt usw. . An seine Grenzen stößt er natürlich trotzdem noch oft und man merkt, dass er sich viel mehr konzentrieren muss und sich nichts so "nebenbei" entwickelt wie bei normal hörenden Altersgenossen.
K. bekommt Logopädie, Hörfrühförderung und Heilpädagogische Frühförderung; in unregelmäßigen Abständen auch AVT. Er besucht den gleichen Regelkindergarten (mit Integrationskraft) in unserer Straße, den zuvor seine beiden Schwestern besucht haben und hat sich dort prima eingelebt.
Wir fahren zur Zeit regelmäßig ambulant nach Hannover, um das CI optimal einstellen zu lassen.
Momentan sind wir endlich wieder etwas zuversichtlich.

Die Ärztekammer hat in K.s Fall (nach 14 Monaten Bearbeitungszeit) einen Behandlungsfehler anerkannt, allerdings kann ein daraus resultierender Gesundheitsschaden nicht mit letzter Gewissheit nachgewiesen werden. Der Vorsitzende der Gutachterkommission schrieb uns: "Es könnte natürlich auch so sein, dass die Zeitverzögerung von 10 Monaten keine Auswirkungen auf die Entwicklung des Kindes gehabt hat." Diese Art von Zynismus ist nicht zu übertreffen.
Wir haben mittlerweile eine auf Medizinrecht spezialisierte Anwaltskanzlei beauftragt, unseren Sohn juristisch zu vertreten. Da es sich in K.s Fall um einen „groben Diagnosefehler“ bzw. Befunderhebungsfehler handelt, war wohl auch der Versicherung klar, dass juristisch eine Beweislastumkehr in Kraft tritt. Das heißt, es hätte bewiesen werden müssen, dass die 10monatige Verspätung der Hörgeräteversorgung keinen Einfluss auf K.s Entwicklung hatte.
Die Versicherung des Arztes hat sich nach Verhandlungen mit unserem Anwalt bereit erklärt, eine Abfindungssumme zu zahlen.

Uns ist daran gelegen, dass Ärzten, die BERA-Untersuchungen in ihrer Praxis durchführen, klar wird, dass sie eine Mitverantwortung tragen und welche Konsequenzen mangelnde Sorgfalt bzw. gewissenloses Arbeiten haben können.
Es wäre schön, wenn die Qualität der BERA-Untersuchungen besser gesichert würde, bzw. die sorgfältig und gewissenhaft arbeitenden Pädaudiologen eine höhere Wertschätzung erführen.

Zum Schluss möchten wir uns noch ganz herzlich bei diesem Forum bedanken! Wir haben hier viele Tipps und Anregungen gefunden, unglaublich nette Leute auch persönlich kennengelernt (u.a. beim Eltern-Kind-Wochenende in Horath, das wir unglaublich genossen haben) und stöbern immer wieder gerne im Forum.
Es ist so wichtig, sich mit anderen Betroffenen austauschen zu können.

Liebe Grüße
Christine
Momo
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Re: Er weiß noch nicht einmal, wie er heißt...(1)

#3

Beitrag von Momo »

Liebe Christine und Familie,

vielen Dank für euren ausführlichen Bericht. Dieser hat mich sehr bewegt. Noch immer gibt es viele Kinder die nicht/ zu spät oder falsch diagnostiziert werden und denen oft jahrelange Qual erspart werden könnte- leider.
Jedenfalls freue ich mich für euren Sohn, dass er sich scheinbar so gut entwickelt und auch im Kiga so gut zurecht kommt.

Liebe Grüße
von
Wiebke und Sohn (fast 21 Jahre) mit 1 HG und 1 CI
Marina70
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Re: Er weiß noch nicht einmal, wie er heißt...(1)

#4

Beitrag von Marina70 »

Hallo Familie Rose,

erschütternd was einem alles passieren kann, in einer Welt in der die Medizin doch so weit fortgeschritten ist. Ich finde es toll das Sie Ihre Erlebnisse und Erfahrungen hier in das Forum geschrieben haben. So kann jeder mit ähnlichen Problemen gleich entsprechende Schritte in die Wege leiten. Ich wünsche Ihrem kleinen Sohn alles erdenklich Gute und hoffe das er seine, durch das beeinträchtige Hörvermögen verlorene Zeit schnell aufholt.

Herzliche Grüße
Marina
Silvio
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Re: Er weiß noch nicht einmal, wie er heißt...(1)

#5

Beitrag von Silvio »

Hallo liebe Familie Rose,

vielen lieben Dank für den ausführlichen Bericht. Der geringe Kenntnisstand vieler Ärzte ist immer wieder erschreckend.

Aber schön, dass das Kämpfen sich gelohnt hat und das C. von dem Implantat profitiert!

Ich wünsche euch was!

Herzliche Grüße
Silvio P.
Irina Haun
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Re: Er weiß noch nicht einmal, wie er heißt...(1)

#6

Beitrag von Irina Haun »

Hallo Und einen schönen Guten Morgen,

Ich finde es toll wie ihr alles meistert und hoffe das eure Ärzte Marathon nun zu ende ist.
Ich wünsche euch weiterhin viel Mut und Kraft.
Und das euer Sohn mit dem Implantat zurechtkommt.

LG Irina
Tina-Sarah
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Re: Er weiß noch nicht einmal, wie er heißt...(1)

#7

Beitrag von Tina-Sarah »

Hallo Christine,

da hast du aber einen schönen ausführlichen Bericht geschrieben. Für uns war das Eltern-Kind-WE auch sehr interessant.

Da habt ihr dieses Jahr auch schon einiges hinter euch gebracht. Ich drücke euch die Daumen dass C. von dem CI so profitiert wie es auch unsere Sarah tut.

Wünsche euch alles Gute !!
Liebe Grüße von Tina mit Sarah (* 09.04.03);Waardenburgsyndrom bds.hochgr. sh; 1. CI seit 04/07 aktiv; 2. CI seit 02/08 aktiv
Carina (*24.09.05);Spitzenlauscher
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