Einige Zusammenhänge aus (meiner) medizinscher Sicht in Bezug auf das Hören
Verfasst: 26. Jan 2016, 10:20
Kürzlich ist im Magazin FOCUS ein Artikel zum Thema Hören und insbesondere der sich hieraus aktuell ergebenden Problematiken erschienen.
Da er viele medizinische Aspekte behandelt und so einen guten Ueberblick bietet, möchte ich ihn hier erwähnen. Er ist unter folgendem Link abrufbar:
http://www.focus.de/gesundheit/ratgeber ... 15410.html
Allerdings finde ich vieles nicht sehr präzise, zum Teil gar falsch. Des weiteren werden (aus meiner Sicht) gewisse Schlussfolgerungen nicht gezogen (so dass sich Widersprüche ergeben) - das möchte ich nachholen (und gleichzeitig auch gewisse Aussagen präzisieren).
Zitat s. 1 unten:
"Experten warnen vor einem verheerenden Zusammenwirken von Zivilisationslärm und alternder Gesellschaft." (I)
Zitat s. 1 unten:
"Bei Kindern und Jugendlichen hat sich die Zahl der Hörstörungen nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde in den vergangenen 24 Jahren verdoppelt. Weil die Probleme oft schleichend entstehen, verpassen viele den richtigen Moment, sich Hilfe zu suchen."
Worin besteht denn diese Hilfe? Bei einer Hörgeräteversorgung wird der Input verstärkt, was dazu führen kann, dass der unter dem mit (I) bezeichneten Zitat aufgeführte Zivilisationslärm verstärkt wird - sofern man hier nicht auf tiefe Begrenzung achtet (und dies (beim vorliegenden Hörverlust) überhaupt möglich ist).
Zitat s. 2 oben:
"Vor einem Jahr testeten sie zum ersten Mal eine neue Gentherapie, die fast Taube wieder hören lassen soll. Der erste Patient, der sich dieser experimentellen Therapie unterzog, ist Rob Gerk."
Hierzu ist zu sagen, dass die OHCs durch diese Therapie nicht "nachwachsen" können, sondern nur die IHCs. Wer sich einer Behandlung unterzieht, ist also weiterhin mindestens mittelgradig schwerhörig (wichtig ist auch zu wissen, dass eine einigermassen hochgradige Dysfunktion der IHCs (bei gleichzeitiger einigermassen intakter Funktion der retrocochleären Hörbahnen) vorliegen muss, damit die Therapie überhaupt etwas bewirken kann).
Somit wird auch nach noch so erfolgreicher Therapie eine Hörgeräteversorgung indiziert sein.
Zitat s. 2 oben:
"„Wir wollen das Ohr reparieren, anstatt seine Funktionen künstlich mit Hörhilfen nachzuahmen“, erklärt Hinrich Staecker."
Dieser Wunsch ist zwar verständlich; aus oben genannten Gründen liegt dessen (vollständige) Erfüllung selbst bei erfolgreichen Versuchen noch in weiter Ferne.
Zitat s. 2 unten:
"Forscher der amerikanischen Firma GenVec entwickelten eine Methode, den Atoh1-Schalter bei Säugern im Labor wieder auf Wachstum umzulegen."
Möglicherweise ist es aus evolutionsbiologischer Sicht "sehr sinnvoll", dass dieser "Schalter" beim Menschen "die betreffende Position einnimmt" (braucht allerdings nicht so zu sein). Wenn es so sein sollte, wird man das möglicherweise erst nach sehr langer Zeit fest stellen (obwohl nicht auszuschliessen ist, dass die Folgen verheerend sein können).
Zitat s. 3 oben:
"Die elektronischen Hörprothesen stimulieren über eine implantierte Sonde die Zellen in der Hörschnecke. Kinder, die nicht hören können, lernen damit normal sprechen."
Tja, das gilt leider bei weitem nicht für alle Kinder - leider besteht eine grosse Gefahr, dass das Kind bei einem mässigen bis schlechten Hörerfolg nicht adäquat gefördert wird. Somit kann es durch das Implantat erst recht behindert werden (als Folge einer entsprechenden Politik, welche ich hier nicht klassifizieren möchte).
Zitat s. 3 oben:
"Das Feld der klassischen Hörgeräte hat sich ebenfalls weiterentwickelt. Moderne Apparate erzeugen keine Störgeräusche und Rückkopplungen mehr."
Das stimmt nicht. Durch die Rückkoppelungsunterdrückung bspw. können viele Störgeräusche erzeugt werden, auch durch die Lautsprecher.
Zitat s. 3 unten:
"Vielen Schwerhörigen gelingt es zunächst noch, einem Gesprächspartner konzentriert zuzuhören. In Gruppen oder bei großem Hintergrundlärm versagt das Gehör aber bereits."
Hier konnen auch Högeräte oftmals nur bedingt Abhilfe schaffen - es besteht diesbezüglich noch ein sehr grosses Verbesserungspotential (das ist mitunter ein Grund, weshalb Hörgeräte oftmals in der Schublade landen (weil sie gerade in Situationen, in welchen sie am ehesten gebraucht werden, kaum ein besseres Sprachverstehen ermöglichen können), was ich (aus medizinischer Sicht, insbesondere unter Berücksichtigung und Würdigung sämtlicher Aspekte, auf welche ich hier zum Teil eingehe) gar nicht unbedingt als falsch ansehe (jedenfalls kann ich nicht zum Schluss kommen, dass im Gegensatz dazu die Verwendung von Hörgeräten in jedem Falle immer die bessere Option sein soll).
Zitat s. 3 unten:
"„Ist das Sprachverstehen bereits eingeschränkt, reduziert sich auch der aktive Wortschatz“, warnt HNO-Spezialist Ernst. Wenn das Gehirn weniger Reize erhalte, verlerne es, sie zu verarbeiten. Schwerhörigkeit sei deshalb „der Hauptrisikofaktor für die Entwicklung der Altersdemenz“, sagt Ernst."
Wobei zu bedenken ist, dass noch nicht untersucht wurde, ob eine Högeräteversorgung das Risiko minimieren kann, jedoch Studien existieren, welche darauf hin deuten, dass Högeräte das Gehör und insbesondere auch das Sprachverstehen vermindern können.
Möglicherweise kann also eine Hörgeräteversorgung das Risiko für Altersdemenz erhöhen (kommt vermutlich auf die Einstellung (insbesondere abhängig von der benötigten Verstärkung bzw. Begrenzung) an), da ja die Korrelation bezüglich Schwerhörigkeit und Demenz besteht (und da man 1. ja trotz Hörgeräteversorgung genau gleich schwerhörig bleibt und 2. wegen dieser die Gefahr besteht, die gesamte Hörbahn (weiter, sogar irreversibel) zu schädigen).
Zitat s. 4 oben:
"Lange waren die Forscher davon ausgegangen, dass diese Flexibilität des Gehirns auf die früheste Kindheit beschränkt ist. Eine Aufsehen erregende US-Studie, die im vergangenen Jahr veröffentlicht wurde, lässt daran Zweifel aufkommen."
Hat der Autor noch nie etwas von "Neuroplastizität des Gehirns" gehört - einer wichtigen Voraussetzung für Lernfähigkeit?
Zitat s. 4 oben:
"Forscher der Johns-Hopkins-Universität setzten erwachsene Mäuse eine Woche lang in ein Gehege mit Dauerdunkel. Die Tiere waren praktisch blind. Als die Nager wieder ans Licht kamen, war ihre Sehfähigkeit unverändert, ihr Gehör hatte sich deutlich verbessert. Sie reagierten auf Töne, die sie zuvor nicht wahrgenommen hatten. Aufzeichnungen der Gehirnaktivität ergaben, dass die Nervenzellen des Hörzentrums stärker auf Geräusche reagierten."
Siehe hierzu auch meine These bezüglich der Folgen von Deprivation! So erstaunlich finde ich das nicht.
Auch wenn hier nicht die entsprechende Schlussfolgerung gezogen wird:
Zitat s. 4 oben:
„Längerfristig würden wir gern eine vergleichbare Studie mit Menschen machen“, sagt Versuchsleiterin Hey-Kyoung Lee.
Bei ähnlichen Ergebnissen würde das dann (unter gewissen Voraussetzungen) auch die Folgen von Deprivation relativieren (wie ich es jetzt bereits mache, da diesbezüglich nur wenige gesicherte Erkenntnisse vorliegen).
Gruss fast-foot
Da er viele medizinische Aspekte behandelt und so einen guten Ueberblick bietet, möchte ich ihn hier erwähnen. Er ist unter folgendem Link abrufbar:
http://www.focus.de/gesundheit/ratgeber ... 15410.html
Allerdings finde ich vieles nicht sehr präzise, zum Teil gar falsch. Des weiteren werden (aus meiner Sicht) gewisse Schlussfolgerungen nicht gezogen (so dass sich Widersprüche ergeben) - das möchte ich nachholen (und gleichzeitig auch gewisse Aussagen präzisieren).
Zitat s. 1 unten:
"Experten warnen vor einem verheerenden Zusammenwirken von Zivilisationslärm und alternder Gesellschaft." (I)
Zitat s. 1 unten:
"Bei Kindern und Jugendlichen hat sich die Zahl der Hörstörungen nach Angaben der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde in den vergangenen 24 Jahren verdoppelt. Weil die Probleme oft schleichend entstehen, verpassen viele den richtigen Moment, sich Hilfe zu suchen."
Worin besteht denn diese Hilfe? Bei einer Hörgeräteversorgung wird der Input verstärkt, was dazu führen kann, dass der unter dem mit (I) bezeichneten Zitat aufgeführte Zivilisationslärm verstärkt wird - sofern man hier nicht auf tiefe Begrenzung achtet (und dies (beim vorliegenden Hörverlust) überhaupt möglich ist).
Zitat s. 2 oben:
"Vor einem Jahr testeten sie zum ersten Mal eine neue Gentherapie, die fast Taube wieder hören lassen soll. Der erste Patient, der sich dieser experimentellen Therapie unterzog, ist Rob Gerk."
Hierzu ist zu sagen, dass die OHCs durch diese Therapie nicht "nachwachsen" können, sondern nur die IHCs. Wer sich einer Behandlung unterzieht, ist also weiterhin mindestens mittelgradig schwerhörig (wichtig ist auch zu wissen, dass eine einigermassen hochgradige Dysfunktion der IHCs (bei gleichzeitiger einigermassen intakter Funktion der retrocochleären Hörbahnen) vorliegen muss, damit die Therapie überhaupt etwas bewirken kann).
Somit wird auch nach noch so erfolgreicher Therapie eine Hörgeräteversorgung indiziert sein.
Zitat s. 2 oben:
"„Wir wollen das Ohr reparieren, anstatt seine Funktionen künstlich mit Hörhilfen nachzuahmen“, erklärt Hinrich Staecker."
Dieser Wunsch ist zwar verständlich; aus oben genannten Gründen liegt dessen (vollständige) Erfüllung selbst bei erfolgreichen Versuchen noch in weiter Ferne.
Zitat s. 2 unten:
"Forscher der amerikanischen Firma GenVec entwickelten eine Methode, den Atoh1-Schalter bei Säugern im Labor wieder auf Wachstum umzulegen."
Möglicherweise ist es aus evolutionsbiologischer Sicht "sehr sinnvoll", dass dieser "Schalter" beim Menschen "die betreffende Position einnimmt" (braucht allerdings nicht so zu sein). Wenn es so sein sollte, wird man das möglicherweise erst nach sehr langer Zeit fest stellen (obwohl nicht auszuschliessen ist, dass die Folgen verheerend sein können).
Zitat s. 3 oben:
"Die elektronischen Hörprothesen stimulieren über eine implantierte Sonde die Zellen in der Hörschnecke. Kinder, die nicht hören können, lernen damit normal sprechen."
Tja, das gilt leider bei weitem nicht für alle Kinder - leider besteht eine grosse Gefahr, dass das Kind bei einem mässigen bis schlechten Hörerfolg nicht adäquat gefördert wird. Somit kann es durch das Implantat erst recht behindert werden (als Folge einer entsprechenden Politik, welche ich hier nicht klassifizieren möchte).
Zitat s. 3 oben:
"Das Feld der klassischen Hörgeräte hat sich ebenfalls weiterentwickelt. Moderne Apparate erzeugen keine Störgeräusche und Rückkopplungen mehr."
Das stimmt nicht. Durch die Rückkoppelungsunterdrückung bspw. können viele Störgeräusche erzeugt werden, auch durch die Lautsprecher.
Zitat s. 3 unten:
"Vielen Schwerhörigen gelingt es zunächst noch, einem Gesprächspartner konzentriert zuzuhören. In Gruppen oder bei großem Hintergrundlärm versagt das Gehör aber bereits."
Hier konnen auch Högeräte oftmals nur bedingt Abhilfe schaffen - es besteht diesbezüglich noch ein sehr grosses Verbesserungspotential (das ist mitunter ein Grund, weshalb Hörgeräte oftmals in der Schublade landen (weil sie gerade in Situationen, in welchen sie am ehesten gebraucht werden, kaum ein besseres Sprachverstehen ermöglichen können), was ich (aus medizinischer Sicht, insbesondere unter Berücksichtigung und Würdigung sämtlicher Aspekte, auf welche ich hier zum Teil eingehe) gar nicht unbedingt als falsch ansehe (jedenfalls kann ich nicht zum Schluss kommen, dass im Gegensatz dazu die Verwendung von Hörgeräten in jedem Falle immer die bessere Option sein soll).
Zitat s. 3 unten:
"„Ist das Sprachverstehen bereits eingeschränkt, reduziert sich auch der aktive Wortschatz“, warnt HNO-Spezialist Ernst. Wenn das Gehirn weniger Reize erhalte, verlerne es, sie zu verarbeiten. Schwerhörigkeit sei deshalb „der Hauptrisikofaktor für die Entwicklung der Altersdemenz“, sagt Ernst."
Wobei zu bedenken ist, dass noch nicht untersucht wurde, ob eine Högeräteversorgung das Risiko minimieren kann, jedoch Studien existieren, welche darauf hin deuten, dass Högeräte das Gehör und insbesondere auch das Sprachverstehen vermindern können.
Möglicherweise kann also eine Hörgeräteversorgung das Risiko für Altersdemenz erhöhen (kommt vermutlich auf die Einstellung (insbesondere abhängig von der benötigten Verstärkung bzw. Begrenzung) an), da ja die Korrelation bezüglich Schwerhörigkeit und Demenz besteht (und da man 1. ja trotz Hörgeräteversorgung genau gleich schwerhörig bleibt und 2. wegen dieser die Gefahr besteht, die gesamte Hörbahn (weiter, sogar irreversibel) zu schädigen).
Zitat s. 4 oben:
"Lange waren die Forscher davon ausgegangen, dass diese Flexibilität des Gehirns auf die früheste Kindheit beschränkt ist. Eine Aufsehen erregende US-Studie, die im vergangenen Jahr veröffentlicht wurde, lässt daran Zweifel aufkommen."
Hat der Autor noch nie etwas von "Neuroplastizität des Gehirns" gehört - einer wichtigen Voraussetzung für Lernfähigkeit?
Zitat s. 4 oben:
"Forscher der Johns-Hopkins-Universität setzten erwachsene Mäuse eine Woche lang in ein Gehege mit Dauerdunkel. Die Tiere waren praktisch blind. Als die Nager wieder ans Licht kamen, war ihre Sehfähigkeit unverändert, ihr Gehör hatte sich deutlich verbessert. Sie reagierten auf Töne, die sie zuvor nicht wahrgenommen hatten. Aufzeichnungen der Gehirnaktivität ergaben, dass die Nervenzellen des Hörzentrums stärker auf Geräusche reagierten."
Siehe hierzu auch meine These bezüglich der Folgen von Deprivation! So erstaunlich finde ich das nicht.
Auch wenn hier nicht die entsprechende Schlussfolgerung gezogen wird:
Zitat s. 4 oben:
„Längerfristig würden wir gern eine vergleichbare Studie mit Menschen machen“, sagt Versuchsleiterin Hey-Kyoung Lee.
Bei ähnlichen Ergebnissen würde das dann (unter gewissen Voraussetzungen) auch die Folgen von Deprivation relativieren (wie ich es jetzt bereits mache, da diesbezüglich nur wenige gesicherte Erkenntnisse vorliegen).
Gruss fast-foot